Warum unsere kulinarische Identität längst ein*e Kosmopolit*in ist
So einfach ist das nicht mit dem Regional-Saisonalen, der Heimatküche und der Identität. In vielen Küchen verzweigen sich verschiedenste kulinarische Wurzeln zu etwas eigenem.

Zum Beispiel das thailändische Ex-Model Dalad Kambhu, das sich mit seinem von traditionellen Garküchen inspirierten Berliner Restaurant Kin Dee einen Michelin-Stern erkocht hat – eine thailändische Küche mit radikal regional-saisonalen Zutaten: Papayasalat, nur eben aus Brandenburger Kohlrabi.
Oder Alexander Wahi, westfälischer TV-Koch mit indischen Wurzeln, der zum Vatertag schon mal die westfälischen Klassiker modifiziert. Der sich auf Blutwurst versteht. Und genauso auf ein im Lehmofen gegartes Tandoori-Hühnchen. Oder Martin Müller, in Ostberlin aufgewachsener Enkel eines schwarzen GIs, der vor drei Jahren das Neuköllner Restaurant Tisk erfunden hat, eine Neuinterpretation der Altberliner Kneipe. Mit „Broiler“ zum tischweisen Teilen. Und einem „Jurkensalat“, der tatsächlich genau in dieser Schreibweise auf der Karte steht. Dabei wurde er, der Afrodeutsche, eigentlich immer schief angeguckt in den Altberliner Kneipen, deren kulinarischer Hemdsärmeligkeit er nun also huldigt.
Drei gastronomische Biografien, die gleich einmal deutlich machen: So einfach ist das nicht mit dem Regional-Saisonalen, der Heimatküche und, ja, der kulinarischen Identität. Oder ist es am Ende vielleicht sogar viel einfacher. Während des Corona-Lockdowns, so hieß es, standen die vertrauten Aromen, die Leibspeisen hoch im Kurs. Vor allem haben sich die Leute Pizza geholt. Und auch wenn ernsthaft darüber gestritten werden darf, ob die besseren Pizzen nun sauerteigig-neapolitanisch oder kross-römisch sind, so ist diese wie jene Pizza doch längt vorbildlich integriert. Überhaupt: „Integration geht durch den Magen“, sagt diesbezüglich der zwischen Maultaschen und Spätzle sozialisierte Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba. Das Essen, erst recht die gemeinsame Mahlzeit, sei noch immer der Moment, in dem sich Menschen, ob bewusst oder unbewusst, am selbstverständlichsten von ihren Vorurteilen lösen. Wo uns das vermeintlich Fremde plötzlich ganz nah schmeckt. „Ich habe einfach den Schmeck“, umschreibt das der Berliner Koch Martin Müller. Und meint damit, dass er viele Gerichte aus seinem kulinarischen Gedächtnis kocht. Sei es die Kohlroulade der Oma oder der erste Kebab in Kreuzberg, damals nach der Wiedervereinigung. Überhaupt sind ja keine anderen Sinneseindrücke so stark mit Gefühlen und Emotionen verbunden wie das Geschmacks- und Geruchserlebnis. Und keine anderen Sinneseindrücke sind so einprägsam und auch nach Jahrzehnten noch – zack – abrufbar. Wenn wir in diesen Tagen nun also von einer Rückkehr der Wohlfühlküche reden, von der Sehnsucht nach dem Vertrauten, das mit dem US-amerikanischen Begriff „comfort food“ vielleicht gar nicht mal so schlecht übersetzt ist, dann ist das sicher kein Quatsch, aber eben auch nicht nur Kartoffelbrei mit Soße. Sondern genauso eine Pasta mit Sugo oder Dirty Rice. Es ist auch nicht nur die sogenannte einfache Küche – vergessen wir nicht, wie vollmundig herzlich einen gerade die klassische französische Haute Cuisine umarmen kann. Die Zeit der allzu technischen, zu verkopften Rezepturen und Verarbeitungsschritte aber scheint erst mal vorbei. Gefragt sind authentische Teller mit authentischen Erzählungen. Und eine Nähe, für die es ja mit „meinem Italiener“ dieses typisch deutsche Synonym gibt. „Wir Deutschen mussten ja erst im Urlaub lernen, was es bedeutet, abends zu essen“, sagt noch einmal der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba. Und so gesehen wären dann nicht nur die neapolitanische Pizza, das nordamerikanische Pulled Pork oder das koreanische Bibimbap ein zugegeben noch junger, aber manifester Baustein unserer kulinarischen Identität. Auch den genüsslich ausgedehnten, schwelgerischen Restaurantbesuch haben wir uns also bei unseren Nachbarn abgeguckt . Mag das Lokal, auf dessen Terrasse wir da gerade sitzen, auch – sagen wir – „deutsches Haus“ heißen.
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